Je später die Berichte, desto länger die Texte: 100 Meilen Starter Bernd hat uns einen ausführlichen Bericht zu seinem ganz persönlichen (Beinah-)100 Meilen Abenteuer zukommen lassen. Viel Spaß.


Prolog

Es gibt Wochenenden, die plätschern so dahin. Zwischen Freitag und Sonntag liegen keine besonderen Vorkomnisse. Für gewöhnlich schläft man vielleicht ein bisschen mehr als sonst, zupft ein wenig Unkraut im Garten, hängt vor dem Fernseher oder sonstwo ab und bevor man bis drei zählen kann, ist es schon wieder Montag.

Jetzt aber ist es Donnerstag und ein Wochenende, welches so ziemlich exakt das Gegenteil des eben beschriebenen darstellt, steht bevor.  Auf geht´s zum Chiemgauer100er! Ich habe mich viele Wochen auf diese hundert Meilen mit ihren siebeneinhalbtausend Höhenmetern vorbereitet; bin mit Holzscheiten im Laufrucksack die hügeligsten Landschaften meiner Gegend abgerannt, um den Trainingseffekt zu erhöhen. Die heißesten Nachmittage habe ich für schwitzende Laufeinheiten genutzt, um mich abzuhärten.

Mein Ziel ist ganz klar abgesteckt: Ich will den Lauf überleben, also ankommen, bevor dem Zielbogen die Luft rausgelassen wird. Das ist für diesen brachialen Berglauf, der dafür bekannt ist, selten eine Finisherquote von mehr als 30, 40 Prozent zu haben, Herausforderung genug. Ich will mich nicht großartig quälen müssen, sondern ganz dem Armin´schen Motto „Es ginge auch ohne Training, aber mit macht´s mehr Spaß“ folgen. Lange Trainingseinheiten habe ich mit flotten Hügel-Läufen (Berge stehen mir auf den Hausrunden leider nicht zur Verfügung) und sogar mit der einen oder anderen Sprinteinheit – ich hasse Sprints – gemischt. Jetzt wird es sich zeigen, ob die antrainierte Ausdauer und Kraft ausreichen werden.

Ein Hopfentee zur Akklimatisierung

Mit frischem Negativtest und einem ultraschweren Rucksack sitze ich im Zug Richtung Bergen. Den Fehler, zu Beginn der bayrischen Sommerferien auf der A8 im Auto anzureisen, mache ich nie wieder. Da ich es aber versäumt hatte, eine Platzreservierung vorzunehmen, mache ich es mir sitzend neben der Toilette gemütlich und lese zum x-ten mal Die Einsamkeit des Langstreckenläufers, denn Klischees sind da, um erfüllt zu werden.

Meikl vom Orga-Team höchstpersönlich holt mich am Bahnhof Bergen ab und sorgt bestens für ein maßgeschneidertes Unterhaltungsprogramm. Ladenbergen steht zuerst auf dem Plan; der kulturelle und kulinarische (unter anderem mit einem ausgezeichneten Bierangebot) Hotspot des Ortes. Ich fühle mich sofort heimisch und es ist klar, dass mich der Ladenbergen nicht zum letzten Mal gesehen hat. Hier gibt es Schallplatten, gekühlte Getränke, Bio-Lebensmittel, historische Postkarten … und eine urgemütliche, klein-feine Sonnenterrasse.

Anschließend laden wir mein erweitertes Gepäck – ich konnte im Ladenbergen nicht wiederstehen, mir ein paar Schallplatten zu kaufen; und ein Anderlbock, die Brauspezialität mit lokalem Bezug – in der Pension, wo ich die kommende Nacht verbringen werde, ab. Die Vermieterin ist höchst sympathisch und unkompliziert, das Zimmer perfekt und nur wenige 100 Meter vom Basecamp des Chiemgauer100ers entfernt. Dieses ist dann auch das nächstes Ziel: Wir treffen uns mit „Master of Desaster“ Dirk, dem Kopf des Orga-Teams, wenn man das so sagen kann. Wobei die Hierarchie recht flach oder nicht wirklich vorhanden ist. Jede/r der vier Gi-Nachfolger hat ihre/seine Jobs und manche davon sind vermutlich für Außenstehende nicht so präsent wie andere. Es ist eine große Freude, Dirk seit unserem Trainingslauf von vor sechs Wochen wiederzusehen und ihn ein bisschen von der Arbeit, dem Orga-Endspurt, abzuhalten.

Schon bald trudeln auch Sabine, Philipp und ihr Hunderudel ein. Der Abend entwickelt sich äußerst gemütlich und kurzweilig. Philipp und ich beschließen, noch einen kleinen Warmup-Trainingslauf zu unternehmen, indem wir Pizzen besorgen. Eine für Sabine, eine für Philipp und zwei für mich. Zur Nachspeise serviert Sabine frisches Obst. Ach, geht´s mir gut. Gegen halb zehn mache ich mich auf den Weg zu meinem Zimmer, denn dort wartet ja auch noch ein Anderlbock auf mich.

Der späte Vogel hält länger durch

Wow, habe ich gut geschlafen! Hervorragende Voraussetzung für das, was heute auf dem Plan steht. Bis zum Startschuss um 13 Uhr sind es noch 4 Stunden. Ich bekomme ein Frühstück serviert, welches an (veganer) Vielfalt und auch Menge kaum zu toppen ist. Es dauert nicht lange und ich kann mich kaum noch bewegen, so sehr sind meine Carbo- und alle anderen Speicher geloaded. Ich bedanke mich und packe meine sieben Sachen zusammen, denn aus Motivationsgründen habe ich dieses Zimmer nur für eine Nacht gebucht: Wenn während des Laufs der kleine Downer kommt, möchte ich nicht die Option haben, abzubrechen und mich in ein gemütliches Bett zurück ziehen zu können. Die mentale Peitsche sozusagen.

Am Stadion trudeln nach und nach die Läufer ein. Der Lauf findet unter Einhaltung der 3G-Regeln statt, darum werden erstmal Tests und Impfunterlagen gecheckt. Beschallt werden wir vom lokalen Webradio BRGN-radio und der ballert einen Ohrwurm nach dem anderen raus: The Strokes, Die Sterne, Johnny Cash … ich bin im Glück.

Nach dem Briefing stellt mir Dirk einen gewissen Liviu vor. Er ist aus Prag angereist, versucht sich hier an seinem 100 Meilen Debut und ist ziemlich nervös. Ich empfehle ihm, das Rennen zu Beginn möglichst langsam anzugehen (Edit: Nach dem Startschuss rannte er los und ist nicht mehr gesehen). So wie Philipp und ich, denn unser Plan ist es: Schwach anfangen und – hoffentlich erst recht spät im Rennen – stark nachlassen.

Eingrooven: Knietief im Prolog

13 Uhr. Die Creme de la Creme der 100 Meilen Läufer (alle, welche das komplette Zeitfenster, für das sie schließlich auch bezahlt haben, nutzen wollen) stiefelt los. Es ist ganz schön warm, aber zum Glück taucht der Trail schon bald in schattigen Wald ein. Die Kilometer fliegen dank netter Gespräche mit Sabrina, Ingo und einigen anderen LeidensgenossInnen nur so dahin. Ein bisschen eingebremst werde ich von meinem gut gefüllten Magen; das Frühstück hatte es ganz schön in sich.

Nach 16 Kilometern erreichen wir die erste Verpflegungsstelle. Wasser, Wassermelonen und alles andere, was in flüssiger Konsistenz angeboten wird, verkauft sich wie warme Semmeln.

Dann geht es flach, aber auch schattenlos über die Felder. Philipp und ich wechseln zwischen Marschieren und einem ultraschlurfigen Lauftempo ab. Die imaginäre Handbremse bleibt angezogen – jetzt bloß nichts riskieren.

Wir durchqueren Marquartstein, ich ziehe meine Schildmütze durch das kalte Wasser des Ortsbrunnens und setze sie wieder auf. Die Läufer nach mir machen es nach, als wäre es irgendein lokales Ritual.

Anschließend geht es wieder in den Wald und schon bald auch nach oben. Im offiziellen Höhenprofil der 100 Meilen Strecke sind in dieser frühen Phase des Rennens – wir stecken knietief im Prolog – noch keine relevanten Höhenmeter zu sehen, doch das fühlt sich irgendwie anders an. An der Zeppelinhöhe werden wir von einer schönen Aussicht belohnt und ein paar Serpentinen später stehen wir auch schon am vorläufigen höchsten Punkt, der Rachlalm.

Wir bekommen einen ersten kleinen Vorgeschmack an alpinen Trails und ja, die machen Spaß! Dann geht es am Streichelzoo vorbei in den Wald und nach unten an einen Parkplatz, der auf den seltsamen Namen Drehstrumpf oder so ähnlich hört. Hier sitzen zwei gutgelaunte Jungs, die sich die Startnummern notieren und uns mit Wasser und Iso verwöhnen. Ich komme mit den beiden ins Quatschen. Wir philosophieren über die angegebenen Geschmacksrichtungen auf Energy-Gels und dem, wonach sie tatsächlich schmecken. Ein spannendes, weil interpretationsfreudiges Thema, keine Frage. Doch ich muss irgendwann auch mal wieder weiter …

Auf dem nun folgenden Downhill überhole ich zwei Läufer. Einer deutet auf mich und sagt zu seinem Kumpel „An den müssen wir uns dran hängen, der weiß, wo es lang geht.“ Er spielt auf meine Besichtigungstour der Strecke von vor 6 Wochen mit Dirk an. Ich überlege, ob ich ihn über mein Kurzzeitgedächtnis, welches in Verbindung mit chronischer Orientierungsschwäche keinen festen Anker auf stürmischer See darstellt, informieren soll, belassse ihn dann aber doch in seinem Glauben.

Kampenwand und andere Katastrophen

Es geht zu einer kurzen Ortsbesichtigung durch Rottau und im Wohnviertel treffe ich auf einen Typen, der in seinem Bagger sitzt, und seinen Kumpel. Beide sind schon bestens in Feierabendlaune, haben gut getankt und sagen jedem Läufer, auf welchem Platz er gerade ist. Ob sie noch in der Lage sind, richtig durchzuzählen, entzieht sich meiner Kenntniss, aber Zweifel sind berechtigt. Auf dem Kanaldeckel vor ihnen ist ein Pfeil als Wegmarkierung gesprüht, aber der zeigt steil nach links, mitten in ein Gebüsch. Die beiden Jungs amüsieren sich köstlich über die irritierten Blicke und geben sich gegenseitig die Schuld für den ganz offensichtlich mutwillig verdrehten Kanaldeckel. In Rottau pflegt man einen sehr eigenwilligen Humor. Ich lasse mich auf deren Niveau runter und deute einen Hechtsprung in die Hecke an. Die beiden kugeln sich vor Lachen; ich habe zwei Menschen glücklich gemacht. Das war einfach.

Die nächste Verpflegungsstelle ist strategisch verdammt wichtig, denn sie markiert den Beginn des ersten nennenswerten Aufstiegs, den ich sicherlich nicht mit leerem Magen antreten möchte. Der Zeiger meines Biorhythmus steht auf Abendessen. Hier gibt es wieder alles, was der Läufermagen begehrt. Für mich kristallisieren sich Kartoffeln mit Salz, dazu Gurkenscheiben mit Salz und als Nachspeise Wassermelone und/oder Orangen heraus. Dazu wird mir ein alkoholfreies Zwickl gereicht. Die all-you-can-eat-n-drink-Party lässt keine Wünsche offen – ich bin im Glück.

Der Aufstieg ist wieder mal dank vieler netter Gespräche sehr kurzweilig. Die breite Forststraße wird schon bald zum Bergpfad und ein wunderbares Alpenpanorama, eine imposante Felswand, zeigt sich zu unserer Linken.

Ich bin gut gelaunt, fühle mich fit und merke, dass die Truppe um mich herum ein bisschen langsamer als mein Wohlfühltempo unterwegs ist. Da wir aber immer noch bis zur Wade im Prolog stecken, genieße ich das Schlurftempo, laufe auch mal ein paar Meter voraus, um mich dann fotografierend zu positioneren und wieder einholen zu lassen. Wir ziehen an der Schlechtenbergalm vorbei und lassen die Kampenwand hinter uns. Als es dann auf sehr breiter, ausgespülter Piste steil nach oben geht, wird es leider für Philipp immer schwerer, das Tempo zu halten. Magen- und Sauerstoffzuvorprobleme machen ihm seit einiger Zeit zu schaffen. Zu diesem Zeitpunkt hoffe ich aber, dass sich das Problem wieder legt, sobald wir die positiven Höhenmeter für´s erste überwunden haben.

Doch noch etwas anderes macht uns Sorgen. Philipp sagt „Das schaut nicht gut aus“ und zeigt dabei auf den Himmel überhalb der Hofbauernalm, unserem nächsten Versorgungsstützpunkt. Die Wolken sind nahezu schwarz, hängen verdammt tief und verbreiten Endzeitstimmung. Na bravo.

Gleich nach der Sonnenalm geht es jetzt erstmal auf einem wunderbaren Trail mit dezent hochalpinem Charakter weiter. Eine Läuferin, die eine Stunde nach mir gestartet ist, holt mich ein. Vor uns stehen mitten auf dem Weg Kühe. Ich rate ihr – aus eigener Erfahrung – das Tempo etwas zu drosseln und an den Kühen mit Abstand vorbei zu laufen, um sie nicht zu erschrecken. „Oh, du hast recht, gute Idee, das hatte ich gar nicht auf dem Schirm.“ Wir kommen ins Gespräch. Sie: „Ich werde die Nacht hindurch nur wandern.“ Ich „Das kann ich mir nicht leisten, das hole ich später nicht mehr ein. Außerdem kann man es auf dem Weg runter nach Mühlau doch total gut laufen lassen.“ Wir tauschen noch ein wenig unsere Laufstrategien aus, dann zieht sie dahin.

Ich erreiche die Hofbauernalm nahezu gleichzeitig mit dem Gewitter, welches jetzt stürmisch über uns herein bricht. Aber die Freude überwiegt erstmal, da ich hier Uli als Helfer antreffe. Kein Mensch auf der ganzen Welt hat die Chiemgauer100 so oft gefinisht wie er. Er ist als Teilnehmer ebenso legendär wie Astrids und seine Garage, in welcher Astrid die Läufer nach einem hitzigen Zinnkopf wieder aufgepeppelt hat. Glückliche Erinnerungen an die gute alte C100 Zeit. Die neue Streckenführung lässt leider keinen Ausflug nach Eisenärzt mehr zu, hat aber natürlich dafür ihre ganz eigenen Qualitäten – das möchte ich an dieser Stelle klipp und klar betonen. Wo war ich? Ach ja, Uli serviert mir eine salzige Gemüsebrühe, welche ich in einem Becher in der einen Hand halte, während ich mit der anderen versuche, den Pavillon festzuhalten. Dank heftiger Windböen fehlt nicht mehr viel und man setzt zum Gleitflug an. Dann könnte man sich den Hauptpreis (Tandemflug) wohl sparen.

Philipp schaut nicht mehr gut aus. Damit meine ich natürlich ausschließlich seine Verfassung. Er beschließt, hier den Lauf zu beenden, was mir unglaublich leid tut nach all der langen Vorbereitungszeit. Aber wenn nichts mehr geht … die Chiemgauer100 folgen da ihren ganz eigenen Gesetzen, was ich ja auch schon erleben durfte. Hier kann er sich in der Alm in die Horizontale begeben und das Wetter Wetter sein lassen. Ich krame nach Stirnlampe und Regenjacke und stärke mich mit einem letzten Schluck alkoholfreiem Bier. Das Gewitter macht allmählich einem heftigen Regen Platz. Irre, welche Wassermengen der Wind jetzt ins Gesicht peitscht.

Während ich noch hier am VP so herum stehe und versuche, mich mental auf die jetzt anstehende unfreiwillige Dusche einzustellen, zieht plötzlich eine heftige Windböe den Pavillon nach oben. Einer der Helfer reagiert sofort und hält eine der Stangen fest, während er gleichzeitig mit der anderen Hand sein Handy rauszieht und die Lautstärke der WLAN-Box auf Maximum stellt: Passend zum aktuellen Geschehen wird mir “Atemlos durch die Nacht” um die Ohren geschleudert! Eine Szene, die an Absurdität kaum zu überbieten ist. Und all die grandiosen, von BRGN-Radio gesetzten Ohrwürmer, in Sekundenschnelle für die Katz! Danke, Helene. Dennoch, das war ein C100-Moment für die Ewigkeit.

Im strömenden Regen geht es auf einem Bergpfad steil nach unten. Der Weg wird ruckzuck zu einem kleinen Bach – jeder Schritt muss gut überlegt sein. Es ist mittlerweile dunkel und ich hoffe, dass die Batterien meiner Stirnlampe ihr Seepferdchen gemacht haben. Ich muss aber schon sagen: Von meiner Ausrüstung bin ich bis jetzt sehr begeistert. Die Regenjacke macht ihren Job (und es ist ein harter Job), meine Schuhe finden selbst auf diesem Terrain halbwegs Grip. Helenes Melodie leise vor mich hin summend schlurfe ich gut gelaunt nach unten.

Ich treffe auf Ingo und wir finden ein gemütliches gemeinsames Lauftempo. An einem Zaun entlang verliert sich der Weg ein bisschen und wir stochern mal in die eine, mal in die andere Richtung, um zu sehen, wie unsere GPS-Daten darauf reagieren. Irgendwo aus dem Nirgendwo taucht plötzlich die Läuferin auf, mit der ich vor der Hofbauernalm schonmal unterwegs war und mit deren Tempo nicht ganz klar kam. Sie hatte sich verlaufen. Gemeinsam finden wir aber recht schnell wieder einen Weg, welcher auch diesen Namen verdient hat.

Der Regen lässt nach und es geht auf einem breiten Forstweg gemütlich bergab, einige Kilometer lang, gerade aus Richtung Mühlau. Wir sind flott unterwegs, vermutlich irgendwas um einen 5:30er Schnitt herum. Ich: “Stell dir vor, neulich hat doch tatsächlich jemand zu mir gesagt, die komplette Nacht nur wandern zu wollen.” Sie: “Ach was, und mir sagte jemand, man könne es hier so gut laufen lassen.”

Einige Kilometer später sagen mir meine Oberschenkel, sie hätten gerne zur Abwechslung ein paar hundert Meter ein gemäßigteres Tempo, falls ich sie noch länger benötigen sollte. Ich halte das für einen fairen Deal und verabschiede mich von meiner Ultratrailabschnittspartnerin.

Die Ruhe nach dem Sturm

Mühlau ist nicht mehr weit. Bei meinem Testlauf mit Dirk, sechs Wochen zuvor, hatte uns Philipp hier Wasser deponiert. Jetzt sind meine Vorräte von der letzten VP her noch halbseiden gefüllt. Nach einigen Asphaltmetern am Rand des Wohngebietes führt uns der Trail wieder in die Wildnis, gespickt von abenteuerlichen kleinen Brücken aus Holzbalken, welche keinen allzu vertrauenserweckenden Eindruck machen. Zu meiner Verwunderung kamen aber alle Läufer*innen, welche auf dieser Strecke unterwegs waren, durch.

Abgesehen von 48 Treppen (ja, ich habe mitgezählt!) geht es jetzt an der Tiroler Achen flach entlang. Es ist sowas wie die erweiterte Anlaufstrecke für den nächsten langen Anstieg, hoch auf den Hochgern. An der Brücke vor der Überquerung des Flusses bei Unterwössen steht ein Auto und ein Läuferkollege zieht sich um. “Oh cool, ist das hier eine Verpflegungsstelle?” “Nein, nur ein Privatservice.” Ich bekomme aber trotzdem meine Trinkflaschen aufgefüllt. “Willst du wissen, wie das Wetter wird?” Ich: “Ja, aber hier in den Chiemgauer Alpen traue ich keiner Vorhersage, die über mehr als die kommenden zwei Stunden Bescheid zu wissen glaubt.” Das reicht. Sie zeigen mir den Regenradar und nach zwei Stunden soll hier angeblich die Hölle herein brechen beziehungsweise eine unfassbar große dunkelblaue Fläche alles überdecken. Na bravo. Das bedeutet, dass der Hochgern für mich zur Katastrophe wird.

Leicht deprimiert ziehe ich meines Weges und verlaufe mich erstmal ein bisschen in Unterwössen. Das Nachtleben in diesem Ort ist – ich möchte höflich bleiben – überschaubar. Aber ich komme auch allein zurecht. Ab dem Wössener See geht es wieder nach oben. Es zieht sich, bis ich endlich Widholz erreiche. Widholz ist bekannt für seine verdammt gute Kartoffelsuppe. Alle schwärmen davon und ich bin mächtig gespannt, ob Widholz diesem guten Ruf gerecht werden kann. Um keine unnötige Spannung aufkommen zu lassen: Die Widholzener Kartoffelsuppe war verdammt gut!

Den unglaublich netten Helfern am VP Widholz erzähle ich von meinen Sorgen bezüglich des nahenden Weltuntergangs. Diese ziehen ein Handy raus, schauen auf den Regenradar und … “Das geht doch alles nördlich vorbei, hier ist gar nichts”. Ach du lieber Laufschuh im Himmel, ich danke dir! (Stoßgebet eines Atheisten.)

Zwei Teller Kartoffelsuppe und zwei alkoholfreie Bier später tingele ich weiter. Der Abschied fällt schwer, es war sehr gemütlich hier. Psychisch mache ich mich jetzt erstmal auf einen relativ meditativen Steckenabschnitt gefasst, denn laut meiner Erinnerung an die Testrunde geht es ab jetzt für (einen Flachländer wie mich) unzählige Kilometer einfach nur straight nach oben. Doch die Strecke bekam anscheinend kurzfristig ein Upgrade. Statt breiter Forstwegautobahn gibt es erstmal einen schnucklig intimen Trail. Aber es geht natürlich nach oben, da komme ich jetzt nicht drum rum.

Irgendwann spuckt mich dieser Trail wieder auf dem altbekannten Forstweg aus. Der ist zwar zwei Stufen weniger abenteuerlustig, dafür kommt man aber erstmal – im Rahmen der individuellen Möglichkeiten – schneller voran. Gemein ist, dass es dann wieder zwei- oder dreihundert Höhenmeter nach unten geht, obwohl man sich schon so weit nach oben gekämpft hat. Egal, dem Hochgern mit seinen 1748 Metern werde ich zeigen, wer hier der Chef ist!

Agergschwendtalm on my mind! Das ist die Alm, an der es via Selbstbedienung leckeres Radler und anderen Stoff gibt. Aber leider nicht heute, die SB-Kasse ist abgebaut. Verdammt! Seit vielen Kilometern hatte ich mich darauf gefreut, Dirk ein “Auf Dich!” prostendes Foto via WhatsApp zu schicken. Satz mit X, das war wohl nix. Schade, aber ich werde es überleben, denn nur wenige Höhenmeter später wartet bereits eine vollbesetzte Verpflegungsstelle im Hochgernhaus auf mich.

Das Hochgernhaus lädt zum Verweilen ein. Eine gemütliche Bank will besitzt werden und fleißige Helfer lesen dir jeden Wunsch vom verschwitzten Gesicht ab. “Wie wär´s mit einem Kaffee?” Oh mein Gott, ich muss aufpassen, dass mir keine Freudentränen die Wangen einsalzen. Erstmals bekomme ich zu spüren, dass ich schon eine Weile unterwegs bin. Die Pause tut jedenfalls verdammt gut; und der Support erst recht.

Plötzlich stürmt ein anderer Läufer ins Hochgernhaus rein. Es ist Wolfi, der drei Stunden nach mir gestartet und mich bereits jetzt eingeholt hat – na bravo. Er sprüht nur so vor Energie und nimmt mich erstmal gar nicht wahr, aber das lässt sich schnell ändern. Ich: “It´s a long way to the top …” und Wolfi so: “… if you wanna Rock´n´Roll! Ah – Bernd! Servus!”. Dieses Ritual hat Wolfi vor vielen Jahren, als ich ächzend am Aufstieg zum Hörndl unterwegs war und er mich mit einem fröhlichen AC/DC-Klassiker auf dem Lippen überholte, eingeführt. Ich war damals in einem Zustand, dass ich gerne auf Rock´n´Roll verzichtet hätte, wenn der Weg so lang (und steil) ist.

Wolfi hätte jetzt gern Tee. “Lindenblütentee?” “Nein, bloß nicht, sowas könnt ihr doch nicht anbieten, Lindenblütentee passt gar nicht, der beruhigt doch!” Ich würde Wolfi jetzt gerne einen Maßkrug voll Lindenblütentee verpassen und wenn´s sein muss auch intravenös.

Als Wolfi sich schon längst vom Acker gemacht hat, schlürfe ich noch genüsslich meinen heißen Kaffee aus. Doch irgendwann muss auch ich die Segel streichen, bedanke mich für den superguten Service und gehe hinaus in die Kälte. Zum Glück hat sich die Vorhersage bezüglich des Unwetters nicht bewahrheitet, es ist trocken.

Auf geht´s zur Gipfelbesteigung des Hochgern, dem höchsten Punkt der kompletten Strecke. Diese ist ein wenig tricky, denn sie führt nicht über einen gepflegten Bergpfad, sondern über Felsen und mit ein bisschen Kletterei nach oben. Konzentration ist gefragt und sollte ich kurz zuvor noch die Kälte moniert haben – jetzt ist mir wieder warm.

Am Gipfel des Hochgerns warten die wohl härtesten Jungs des kompletten Chiemgauer 100ers auf mich. Sie harren hier auf 1748 Meter so gut wie schutzlos am Fels, bei Wind und Wetter, und halten über viele Stunden die Checkpoint-Stellung. Vergiss alles, was du jemals über 100 Meilen Läufer gehört hast! Voller Ehrfurcht ziehe ich meine Kamera und mache von den beiden ein Foto für die Ewigkeit.

Neuer Tag, neues Glück

Dann geht es an den Abstieg. Steil, felsig, rutschige Wurzeln, Wasser … also alles, was das Ultratrailherz will. Gefällt mir! An einer Stelle ist es sogar so steil, dass ich erstmal stehen bleibe und zu lachen beginne. Ein dezent hysterisches Lachen mit einer Prise purer Verzweiflung. Wie soll ich denn da runter kommen? Ich setze mich auf einen Felsen, lasse die Füße nach unten baumeln und suche Halt. Dann lasse ich mich langsam nach unten rutschen … und weiter geht´s. Ja, das sind die wahren Perlen eines Trailrunning Parcours.

Doch irgendwann wird auch der steilste Trail flacher. Und der Tag heller; ich kann meine Stirnlampe erstmal wieder einpacken. Das ist immer mit einem komischen Gefühl verbunden, wenn man weiß, dass man das Ding später wieder brauchen wird. Ich werde ein bisschen müde,  doch der jetzt bevorstehende wunderschöne Pfad lässt das nicht zu. Es geht über Holzbrücken, Nasswiesen, dann rein in den Wald. Es folgt ein auf und ab auf einem zum Teil schmalen Steig, welcher mich an die alte Strecke und da den Weg zur Kaitlalm erinnert. Nicht die schlechteste Referenz.

Ich komme mit einem Mitstreiter ins Reden, was gut ist, denn die finale Gerade über Kohlstatt zurück ins Basecamp ist sehr meditativ. Vorteil: Man kann noch ein bisschen Kilometer schrubben, ohne das Zeitkonto zu sehr zu beanspruchen.

Dann ist es endlich soweit. Es ist Samstag, Viertel nach 7 Uhr und ich werde mit einem Gitarrensolo von J. Mascis, das aus den Boxen dröhnt, ins Stadion gezogen. Was für ein Empfang – danke, Meikl! Auch Gi und Dirk freuen sich, mich wieder zu sehen. Ich fühle mich, als hätte ich alles erreicht, doch die Realität schaut anders aus: Das war nur die erste Runde. Der Prolog ist beendet.

Ich begutachte meine Füße. Ach du meine Güte, die Fußsohlen sehen aufgrund der konsequent nassen Schuhe und Socken schrecklich aus. Aufgeschwollen bis zum gehtnichtmehr, total unsexy. Sabine: “Zeig mal, das will ich fotografieren.” Ich: “Aber lass das nicht Tina sehen, sonst bin ich wieder Single.” Dirk: “Ach was, maximal getrennte Schlafzimmer.”

Sabine hilft mir, wo sie nur kann. Sie besorgt mir eine leckere Gemüsebrühe und liest alle Essenwünsche von meinen Augen ab. Sie achtet darauf, dass ich meine Wasserflaschen wieder auffülle, meine Laufstecken nicht vergesse und überhaupt … das nennt man wohl Betreutes Trailrunning. Vielen Dank für diesen Service!

Verdammt, es ist schon kurz nach halb Acht und ich sollte so langsam mal schauen, dass ich weiter komme. Der Prolog wäre abgehakt, jetzt geht es in die zweite, in die alles entscheidende Runde. Werde ich das Tempo halbwegs halten können?

Nach dem Prolog ist nach dem Prolog

Die erste Herausforderung dieser zweiten Runde hört auf den Namen Hochfelln, also das Ding, welches bereits bei den ersten 16 Chiemgauer100ern die Spreu vom Weizen(bier) trennte. Ich schlurfe hundemüde durch den Wald nach oben und das Sandmännchen knallt mir kübelweise von dem Zeug, welches mir die Augenklappen nach unten zieht, ins Gesicht. Hilft alles nichts: Ich muss mal eben kurz in die Horizontale, kuschle mich an einen Baum, schließe meine Äuglein und beginne sofort zu träumen.

Fünf Minuten später wache ich wieder auf und mir geht´s ein bisschen besser. Ich versuche mir wenigstens einzureden, dass es mir besser geht. Ich schlurfe weiter nach oben und werde schon bald von zwei Sprintern – so nennt man die Chiemgauer100er-Läufer, welche “nur” die 100 Kilometer unter die Hufe nehmen – eingesackt. Dass ich mir bereits die Nacht um die Ohren gehauen habe, kann ich ihnen nicht verbergen. Sie zollen mir Respekt. Ich versuche, in ihrem Windschatten Platz zu nehmen. Ein Unterfangen, welches ich aber nach 20 Metern wieder aufgebe.

Die Bäume werden weniger und die Almen mehr. Schön hier! Einige Meter vor mir wandern zwei ältere Damen, mit einem Schoßhündchen bewaffnet, ebenfalls Richtung Hochfelln. Sie unterhalten sich, lachen, haben Spaß. Das beängstigende dabei: Sie sind ungefähr genauso schnell wie ich. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis ich zu ihnen aufschließen kann. Ich überhole und versuche, eine gute Figur dabei zu machen. Und dann kommt die große Herausforderung: Sich nicht mehr von den beiden Damen überholen lassen. Ich gehe ans Limit.

Auf dem Hochfelln gibt´s wieder einen VP, juhee! Ich stürze mich auf die Leckereien und genieße die Aussicht. Der Hochfelln steckt mitten in einer Wolke. Ich zücke mein Handy, mach ein Foto von einer weißen Wand namens Ausblick und schicke das Bild per WhatsApp ins Tal mit dem Text “Dafür hat sich jede Mühe gelohnt!”.

Der Abstieg von Hochfelln ist cool. Es geht über schmale Trails, felsig und stellenweise steil nach unten. Das macht mich wieder wach. Alle paar Minuten werde ich jetzt von 100 Kilometer Läufern überholt und es kommt manchmal zu netten kurzen Schnackereien.

An die Kilometer, welche jetzt folgen, kann ich mich gar nicht mehr so genau erinnern. Ich erinnere mich aber, dass mein Kontingent an Höhenmetern so langsam erschöpft ist. Meine Durchschnittsgeschwindigkeit hatte schonmal bessere Zeiten gesehen. Der Pfad hoch zur Bischofsfellnalm kommt mir vor wie die Besteigung eines 8000ers; die Luft wird verdammt dünn.

An der Jochbergalm checke ich ein, gönne mir ein Radler und winke den vorbei joggenden Kollegen zu. Ich überlege, ob ich mir hier ein Zimmer nehmen soll, aber ich glaube, sowas gibt es hier gar nicht; darum laufe ich weiter.

Es geht rein in den Wald, raus aus dem Wald, wieder rein in den Wald. Uh – das zieht sich. Doch irgendwann kommt auch der langsamste Waldschlurfer an der Langerbauer Alm an. An der Alm der Entscheidung. Mir ist klar, dass ich die komplette Distanz, inklusive des letzten großen Anstiegs zur Hörndlwand nicht mehr innerhalb des Zeitlimits schaffen kann. Es ist spät, ich bin langsam, müde … und ich will im Ziel noch Energie für Party haben! “Liebe Hörndlwand, diesmal hast du gewonnen. Aber nächstes Jahr zeig´ ich dir, wer hier der Chef ist.”

An der Langerbauer Alm liegt Liviu dösend auf einem Stuhl. Aufmerksame Leser erinnern sich: Ich wollte Liviu zu Beginn etwas einbremsen, habe ihn aber die letzten gut 120 Kilometer aus den Augen verloren. Jetzt liegt beziehungsweise sitzt er da, macht einen dezent apathischen Eindruck und schaut nicht so aus, als würde er noch irgendwoher Energie aus der Reserve locken können. Dann steht er auf und meldet an der VP, dass er die verkürzte Strecke wählen wird. Das ist vernünftig, denn zur späten Stunde wird die volle Distanz zur Utopie. Witzigerweise wird er sich hundert Meter später doch nochmal um entscheiden und jenseits jeder Vernunft auf die kompletten 160 Kilometer gehen. Ein verkürztes, aber dafür offizielles Finish innerhalb der vorgegebenen Zeit ist ihm nicht so wichtig. Er hat für die volle Distanz bezahlt und diesen Spaß lässt er sich nicht nehmen, ganz egal, was die Uhr sagt. Ich ziehe meinen imaginären Hut vor Liviu, der – soviel nehme ich jetzt mal voraus – eineinhalb Stunden nach der Cut-Off-Zeit ins Ziel wanken wird und somit seinen ganz persönlichen Sieg einfährt.

In der Kürze liegt die Würze

Ich entscheide mich für die Loser-Edition. 10 Kilometer und über 1000 Höhenmeter weniger, dafür ohne Zeitdruck den Rest der Strecke abschlurfen können – genau mein Style!

Michael hängt in den Seilen. Er will sich hier abholen oder einbuddeln lassen, keine Ahnung, jedenfalls will er den Löffel abgeben. Mindestens den. Ich sag zu ihm: “Hey, wir haben für dreißig Kilometer acht Stunden Zeit, da ist Aufgeben doch keine Option! Lass uns hier eine kleine All-You-Can-Eat-Sause abhalten und dann ab der Fisch.” Das hat ihn doch tatsächlich überzeugt und nach besagter Pause torkeln wir gemeinsam los.

Auf den seltsamen Namen Staudigel hört die nächste VP. Wir werden gut abgefeiert und obwohl ich rein theoretisch noch satt von der letzten Schlachtplatte sein sollte, kann ich hier schon wieder reinschaufeln, als gäbe es kein Morgen. Plötzlich taucht Wolfi, den ich seit dem Hochgern nicht mehr gesehen habe, auf. Er ist mittlerweile auch nicht mehr so aufgedreht, aber trotzdem noch gut unter Strom. Es beginnt das übliche Ritual. Ich “It´s a long way to the top …” und er, trotz des dezent desolaten Zustands absolut textsicher: “… if you wanna Rock´n´Rohohol!”. Erst jetzt entdecke ich, dass Karin, Wolfis Frau, ebenfalls unter den VP-Helfer*innen herum schwirrt. Oh man, das Aufmerksamkeitsdefizit kann man hoffentlich dem Schlafmangel in die Laufschuhe schieben. Die Sauerstoffversorgung eines Ultraläufers funktioniert irgendwann nur noch partiell.

Michael und ich trotten weiter. Mir fällt schon seit einiger Zeit auf, dass Michael gewaltig Rücksicht auf mich nehmen muss, was das gemeinsame Tempo angeht. Er kann wieder Fahrt aufnehmen, ich hingegen, naja, eher weniger. Michael macht erstmal einen auf Forrest Gump und “Ein Marine lässt niemanden im Stich”. Ich bitte ihn, dennoch abzuzischen, mich mit meinem Elend alleine zu lassen. Es fällt ihm sichtlich schwer, da ich ihn motiviert hatte, überhaupt am Ball zu bleiben, denn Ultras sind nunmal ein loyaler Haufen. Ich muss alle Überredungskünste auspacken, dass es jetzt keinen Sinn mehr macht, auf mich zu warten und ich es bevorzuge, mit meinem Elend alleine zu bleiben. Nach über 28 Stunden scheint für mich selbst auf der Ebene die 7 km/h Schallmauer in unerreichbare Ferne gerutscht zu sein. Bevor ich ihm einen Tritt verpassen muss, lenkt er glücklicherweise ein und zieht los. Endlich kann ich wieder vor mich hin jammern, ohne dass es mir peinlich sein muss.

Die Höhenmeter halten sich in Grenzen, mit Ausnahme dieses Hass-Hügels, ein Pfad mit Dschungelcharakter, hinauf nach Egg. Bisher musste man diesen immer hinunter stolpern, seit dieser 17. Auflage des C100er hat sich das Blatt beziehungsweise die Laufrichtung gedreht. Nachdem ich mit meiner Machete den Weg freigeschlagen habe, komme ich oben an der legendären Garagen-VP von Egg an und freue mich über gemütliches Socialising mit leckeren Getränken.

Kein Meter mehr nüchtern

Der Waldweg nach Oberscharam scheint unendlich zu sein, aber egal, denn Bergen, das Mekka des C100, rückt ebenfalls immer näher … tut es das wirklich? Ja, ein Stückchen weiter links müsste es sein, zum Greifen nah scheint das Glück des Finishens zu sein. Aber der GPS-Track spricht noch eine andere Sprache. Von Luftlinie keine Spur. An der VP in Maria Eck wird mir ein Bier angeboten, ein richtiges Bier mit allen Inhaltsstoffen, welche man von einem Bier erwartet. Ich beschließe, keinen Meter mehr nüchtern laufen zu wollen, um die bevorstehenden Schlaufen rund um Bergen mental abzukürzen. Der Plan war gut, aber der Trail nicht bereit.

Zwei Damen überholen mich, lautstark singend. Sie erzählen mir, dass sie bis vor kurzem noch zu Dritt unterwegs waren, aber ihr Begleiter konnte mit so viel guter Laune nicht auf Dauer klar kommen. Er hat von mir vollstes Verständnis.

Kurze Zeit später werde ich dann auch noch von Nicole und Mathias, den Rieser Kraftwerken, überholt. Sie sind deutlich flotter unterwegs als ich und werden mir auf die letzten Kilometer eine gute halbe Stunde abnehmen.

Als hätten wir nicht schon genug Berge gehabt, muss ich jetzt den Schellenberg erklimmen. Dort hat es bis vor ein paar Jahren noch einen gigantischen Biergarten gegeben, dem ich jetzt gerne einen längeren Besuch abgestattet hätte.

Es zieht sich, verdammt, es zieht sich. Das Ziel scheint ständig in Griffnähe zu sein und dennoch nicht näher zu rücken. Ich bin der Landvermesser K. und ich will in dieses verdammte Schloss!

Noch eine letzte Schlaufe zu dieser dämlichen Kapelle hoch (satte 20 Höhenmeter, die sich wie das zehnfache anfühlen), dann über die Straße, nochmal rechts und – yeah – ab ins Stadion! Applaus! Es rockt! Die Melvins rocken aus den Boxen (hab ich in dem Moment zwar gar nicht wahrgenommen, wurde mir aber nachträglich aus sicherer Quelle zugetragen)! Die ganze Welt rockt! Was für ein Empfang. Dirk freut sich riesig, dass ich wieder da bin. Auch Philipp und viele andere. Dreiunddreißigeinhalb Stunden war ich unterwegs für f***ing 150 Kilometer mit etwa 6800 Höhenmetern. Das sind keine Zahlen, mit denen man auf´s Siegertreppchen kommt, schon klar. Aber ich bin jetzt im Ziel, habe fertig, freue mich auf ein Zielbier, eine warme Dusche, noch ein Zielbier und chillen. Es ist halb elf und die Nacht noch jung. Okay, ehrlicherweise muss ich zugeben, dass ich gut zwei Stunden später dann auch endgültig bettreif wurde, aber – ey! – immerhin.

Sieger der Herzen wird natürlich Liviu, der es verweigert, abgeholt zu werden und lieber erst gegen halb zwei, als das Ziel schon dicht war, auf den eigenen Beinen zurück kam. Dafür hat er sein eigenes Ziel, den Kilometerstand von 160 auf der Laufuhr stehen zu haben, erreicht. Was für ein cooler Typ!

Der Sonntag beginnt mit einem ausgezeichneten Frühstück,  verdammt viel Kaffee und Sturmböen mit Platzregen, die uns jetzt natürlich nichts mehr anhaben können. Was hatten wir doch für ein Glück mit dem Wetter. Nebst Siegerehrung gibt es eine Verlosung von wertvollen Sachpreisen; ein C100-Ritual, welches glücklicherweise aus den Vorjahren übernommen wurde. Und so endet ein Wochenende, welches an Intensität kaum zu toppen ist.

Fazit

Dass dies die Debut-Veranstaltung des neuen Orga Teams war, ist kaum zu glauben. Die glorreichen Vier und ihre große Helferzahl haben alles richtig gemacht. Das Feedback der Teilnehmer ist überwältigend und absolut gerechtfertigt. Lediglich an ein paar kleinen Details, welche nicht mal den Namen first-world-problem verdient haben, kann nächstes Jahr gefeilt werden. Es war rundum ein Volltreffer, ein Highlight für Freunde steiler und langer Kanten, ein familiäres Ultra-Erbe, das würdevoll und mit diversen Upgrades fit für die nächsten siebzehn Jahre gemacht wurde. Ich freue mich drauf. Und, meine liebe Hörndlwand, nächstes Jahr zeig ich dir, wer die Ultrahosen  an hat!

Danke an Tina für´s Stalken, Mitfiebern/-leiden und für die Unterstützung!

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