12 Stunden 40 Minuten und 48 Sekunden. 

Valentin war der schnellste Mann auf der neuen 100 Kilometer Strecke und hat hiermit auch schonmal die Messlatte für den  Streckenrekord – zu dem wir ihm ganz herzlich gratulieren! – sehr hoch gelegt!

Hier ist sein Bericht, viel Spaß.


Es ist Mittwoch Nachmittag, der erste Ultralauf über 100km knappe vier Tage her und die Beine können sich noch immer lebhaft daran erinnern. Schon als Kind hatte ich von dem Lauf gehört, als wir mit der Familie mal wieder die Sommerferien in den Chiemgauer Alpen verbracht haben. Damals war es noch weit weg von meiner Vorstellungskraft und wandern die einzige Bewegungsart die ich in den Bergen kannte. Einzig die Bilder der ausgezerrten Läufer aus dem Traunsteiner Tagblatt blieben mir im Gedächtnis. Mit nun 32 Jahren und einiger Erfahrung im Triathlon- und Laufsport las ich vor gut vier Monaten wieder von der Veranstaltung. Meine Freundin und ich wir befanden uns zu dieser Zeit arbeitsbedingt schon ein halbes Jahr in Ecuador auf einer Höhe von 2500 Metern. Egal ob mit dem Rad oder zu Fuß: Flach ist in der Andenstadt Cuenca ein Fremdwort. Direkt vor der Haustür lagen unzählige traumhafte Trailstrecken. NACH Einwilligung meiner Liebsten für so ein Projekt folgte prompt die Anmeldung und eine 16-wöchige Vorbereitung auf der Höhe mit zwei Vorbereitungswettkämpfen auf über 3000hm. Die Hauptmotivation lag immer noch in der Vorstellung, einige der geliebten Gipfel der chiemgauer Alpen mal an einem Tag zu bewältigen. Anfang Juli flogen wir nach Deutschland und rund eine Woche vorher in das Dorf Bergen, zum Dreh-und Angelpunkt des Chiemgauer100. 

Neben den reinen Trainingskilometern während der 16 Wochen Vorbereitung  (im Schnitt 70-80km/Woche) spielen bei einem Ultra das Equipment, die Rennverpflegung und das Pacing eine große Rolle. Dabei halfen Tipps von erfahrenen Ultraläufern sowie Rennberichte (s. Archiv des Chiemgauer100) und diverse Podcasts (u.a. „pushing-limits“ und „Bestzeit”) . So gut es ging versuchte ich im Vorfeld alles zu testen (in Ecuador z.T. eine echte Herausforderung!) und per try and error Erfahrungen zu sammeln, so z.B. wie viel Salz nötig ist um möglichst heil im Ziel anzukommen, wieviel Energie ich in der Stunde etwa aufnehmen muss und wie ich die Unmenge Flüssigkeit von rund 20 Litern zu mir nehmen sollte. 

Wie üblich vor meinen großen Rennen gab es am Vortag eine unmenschlich große Portion Milchreis, abends einen kleinen Teller Nudeln bei der Pastaparty  im Bergener Stadion und einige Snacks bevor es zeitig um 20 Uhr ins Bett ging. 

Am Renntag klingelte der Wecker um 3 Uhr morgens und es gab zwei starke Tassen Kaffee. Unsere Unterkunft lag zum Glück direkt in Bergen und nur 400m vom Start entfernt. An der Startlinie kurz aufwärmen, Carbonstöcke befestigen, Kopflampe sowie GPS-Uhr einschalten und die morgendliche Atmosphäre vor dem Start genießen. Pünktlich um 5 Uhr erfolgte der Startschuss und rund 90 Läuferinnen und Läufer nahmen die Strecke in Angriff. Da es sich um meinen ersten 100Km-Lauf handelte war ich gespannt auf das Anfangstempo und das Pacing der erfahreneren Ultraläufer. Die ersten Meter führen flach durch Bergen bevor es nach rund einem Kilometer einen bewaldeten Berghang hinaufgeht. Das Tempo fühlte sich extrem locker an, sodass ich mich nach kurzem Austausch mit zwei Läufern langsam von der Gruppe distanzierte. Das war nicht mein Plan gewesen, aber es machte einfach richtig Spaß nach der ganzen Ruhepause endlich wieder aufs Gas zu drücken. Der diesjährige Chiemgauer100 beinhaltet zu Beginn eine kleinere Runde, die nach 32 km noch einmal durch das Stadion des TSV Bergen führt und anschließend eine größere Runde mit den zwei prominentesten Gipfeln (Hochfelln 1674hm und Hörndlwand 1684hm). Am ersten Verpflegungspunkt der Strecke bei km 14 schloss der 22 jährige Timon zu mir auf und wir liefen eine gute Strecke Seite an Seite. Das fühlte sich super an und wir tauschten uns eine Weile über diverse Themen aus. Erst zum Ende der ersten Runde hin schlossen zwei weitere Läufer zu uns auf und die Gruppe wurde dynamischer. Insbesondere der schnell vorbeifliegende Stefan Aitl sollte das heutige Rennen noch entscheidend prägen. Auf den letzten Kilometern Downhill schlug dieser mit unter vier Minuten auf den Kilometer ein gewaltiges Tempo  an, dem ich mit einigem Respektabstand folgte. Timon meinte noch zu mir, dass ein zu schnelles Bergablaufen zu diesem Zeitpunkt des Rennens die Oberschenkel zu sehr belasten könnte. So lief ich nach der ersten Schleife an zweiter Position ins Stadion ein, wo meine Supporter noch garnicht mit mir gerechnet hatten. Es ging trotzdem sehr schnell und mit aufgestockter Verpflegung ging es gestärkt auf die Hauptrunde. Nun erwartete uns der abwechslungsreiche Aufstieg zum Hochfelln, bei dem ich erstmals längere Zeit auf die neu zugelegten Carbonstöcke zurückgriff. Auf der steiler werdenden Forststraße überholte ich  einige der am Freitag gestarteten 100 Meilen-Läufer, die sich nach einer Extra-Schleife die Hauptrunde mit uns teilten. Das motivierte mich Richtung Gipfel noch einmal das Tempo anzuziehen und bei Kilometer 41 schließlich  den Verpflegungspunkt (VP) anzusteuern. Wirklich an jedem VP wurden wir herzlichst empfangen, angefeuert und versorgt. Hier schon einmal ein großer Dank an alle Helfer! Nun ging es größtenteils bergab in Richtung „Röthelmoos“ (VP Km 59), wo ich mich schon auf meine Supporter freute. Diesen Abschnitt lief ich nahezu allein, wobei mir die Tracking-Funktion der Uhr das ein oder andere Mal große Dienste bei der Streckenfindung leistete. Apropos Streckenfindung: Irgendwo um km 50 herum wäre ich beinahe auf einer Fortstraße talwärts in Richtung Unterwössen gelaufen. Zu meinem großen Glück rief mir von hinten Stefan zu und schickte mich auf den korrekten Trail, der genau parallel zur Straße, jedoch aufwärts verlief. Ganz ganz großer Sportsgeist! 

Die Hydration und energetische Verpflegung klappte bis hierhin super und das stimmte mich sehr positiv. Jeder Sportler längerer Distanzen weiß, dass ein rebellierender Magen oder falsche Ernährungsstrategie die Leistungsfähigkeit stark einschränken können. Und die Versorgung während des Laufens ist immer eine Gradwanderung zwischen Über- und Unterversorgung. Als ich das Röthelmoos und meine Supporter aus der Ferne erblickte flog die Anspannung und Konzentration kurz von mir ab und Tränen schossen mir in die Augen. Das war mächtig gewaltig was mein Herzblatt und mein Vater heute an der Strecke leisteten. Angesichts der nachfolgenden Marathondistanz fasste ich mich dennoch schnell und nahm den berühmt-berüchtigten Anstieg zur Hörndlwand in Angriff. Ich war überrascht, als der viel weiter vorn geglaubte Stefan Aitl kurz vor mir auftauchte. Er hatte sich etwas mehr Zeit am VP gegönnt und rannte nun unter den durchbrechenden Sonnenstrahlen knapp vor mir in Richtung der steilsten Passage des Tages. Zu diesem Zeitpunkt waren meine Oberschenkel schon leicht angeknockt von den Downhills und fühlten sich bergab an wie bei einem starken Muskelkater, sodass ich mich ab diesem Zeitpunkt unerwartet über jeden weiteren positiven Höhenmeter freute. Der mit über 20% ziemlich steile Aufstieg machte mir, auch dank der gesammelten Höhenmeter in Ecuador, wenig aus und ich konnte wieder an die Spitze wechseln, was Stefan prompt kommentierte: „Bergauf bist du echt ein Tier!“ Um  vor dem nächsten technischen Downhill etwas Distanz zwischen uns zu bringen ließ ich mich erstmals an diesem Tag von etwas Musik antreiben. Die Kombination aus Berg, Sport und Musik entfacht bei mir eine dopingähnliche Wirkung, auch wenn die Gefahr zum überpacen dabei etwas ansteigt;) Kurz vor dem Gipfel traf ich die Spitze der 100 Meiler, mit denen ich motivierende Worte wechselte, bevor es auf den Hörndlsattel ging. Der VP am Gipfel (km 62) haute mich wirklich um, hatte doch eine Familie hier oben ein kleines Zelt aufgebaut um die Läufer mit Energie zu versorgen. Nach Passieren des Gipfels lag der Großteil der insgesamt 4600 Höhenmeter nun hinter uns und es verblieben auf 35 km gerademal knapp 1000hm. Normalerweise ein Grund zur Freude, in meinem Fall aber bei immer schmerzhafteren Oberschenkeln im Downhill eine noch nicht vorstellbare Zumutung. Am Ende des Downhills passierte mich Stefan erwartungsgemäß leichtfüßig und ich war schon fast sicher, ihn hier das letzte Mal zu sehen und gab ihm ein „Auf geht’s!“ mit auf den Weg. Bis zum nächsten VP auf Höhe des Unternbergs (km 69) lief der Trail leicht ansteigend uns es machte immer noch richtig Spaß, Stefan bis hier immerhin folgen zu können. Der lange Downhill auf dem Forstweg in Richtung Talstation vom Unternberg war endgültig eine mentale Herausforderung. Der Schmerz in den Oberschenkeln wurde bei jedem Aufprall heftiger, sodass ein langer innerer Dialog anfing. Ich entschuldigte mich und bat die Oberschenkel darum, mir die folgenden Torturen zu verzeihen. „Ich verspreche euch eine Woche Erholung, viel Essen und einige Saunagänge!“ Selbst bergab und auf der Ebene musste nun ablenkende Musik her. Die Möglichkeit jetzt durchzuhalten lässt sich nur zurückführen auf die Leidenschaft für das Traillaufen, viel Wettkampferfahrung und den durch die Ruhewoche vollständig aufgeladenen Mentalakku. 14 km vor dem Ziel war der Rückstand auf Stefan auf mehr als 8 Minuten angewachsen und von hinten nahte der Drittplatzierte Anton Schäfer. Um den zweiten Platz zu halten mobilisierte ich nun alle Kräfte und nahm neben einigen Litern Iso-Getränk im Trinkrucksack mehrere Koffeingels und einige Becher Cola zu mir, worauf der Motor nochmal richtig zündete. Die letzte Schleife geht fast am Zielbereich vorbei und ist mental wieder eine Herausforderung (möchte der schwächer werdende Mentalakku doch nun lieber direkt auf die Stadionrunde einbiegen). 7km vor dem Ziel verpackte Ich die Trailstöcke und ballerte auf ebener Asphaltstrecke bis zur Zielgeraden, um den zweiten Platz nach Hause zu bringen. 5 km vorm Ziel klatschte mich ein Läufer ab, den ich für einen der 100 Meilenläufer hielt. Kurz darauf folgte ein Radler und rief mir zu, ich läge an Platz 1. Ich versuchte ihn vehement davon zu überzeugen, dass er Platz 1 verpasst haben müsse. Bei km 4 feuerte mich mein Support noch einmal an und gab mir einen letzten Energieschub. Und tatsächlich, ein Blick über die Schulter offenbarte den Blick auf den 300m hinter mir liegenden Stefan (erst im Ziel klärte er mich darüber auf, dass er mich bei km 5 abgeklatscht hatte). Es schoss wie ein Blitz vom Himmel in den Kopf, dass es wohl auf eine „Sprintentscheidung” hinauslaufen würde. „Nur noch 4km, zieh jetzt durch! 16 Wochen Training auf der Höhe und alle Entbehrungen nicht nur für dich sondern auch für dein Umfeld sowie all die mitfiebernden Freunde in Deutschland und Ecuador sind es sowas von Wert!“ All diese Gedanken ließen mich jeden Schmerz vergessen und ich konnte mich schnell distanzieren. Die letzte Waldpassage war vielleicht meine schnellste Ebene Passage des Rennens. Nur noch die 30m Rampe bergab und rechts in Richtung Sportplatz. Ein Blick nach hinten, Stefan war nicht zu sehen. Nun ballte ich die Faust, war selbst immer noch komplett überrascht an Platz eins zu liegen und bog ein auf die Zielgerade im Bergener Stadion. Die Stimmung dort war der  Hammer! An der Ziellinie fand ich schnell meine Liebste und alle Anspannung wich einem großen Glücksgefühl. 

Gerne rufe ich mir die einzigartigen Momente des Chiemgauer100 in den folgenden Tagen immer wieder ins Gedächtnis (Auch weil die sonst selten aufgesuchte Couch dafür eine super Gelegenheit bietet). Platz, Zeit, Pace sind im Nachhinein Nebensache. Es zählt die Erinnerung an ein einzigartiges Ultraerlebnis und tolle Mitläufer!

Vielen Dank an das neue Orga-Team um Kathi, Dirk, Meikl und Lois . Weiter so!